Auf den (heute asphaltierten) Spuren der Rallye-Helden der Vormoderne
Ich warne Sie: Der folgende Artikel ist nostalgisch und ziemlich emotional! Sollten Sie trotzdem weiterlesen, übernehme ich keine Haftung und lasse mich auch nicht entmündigen.
Seit meiner früheren Jugend beschäftigte mich der Motorsport mehr oder weniger intensiv, je näher der Führerschein rückte, um so mehr verfolgte ich Rennen der Formel 1 und Rennsportwagen in deutschen Zeitschriften und Büchern, anderssprachige waren zu dieser Zeit kaum in Wien zu erwerben. Mit dem Führerschein rückten allerdings Rallyes in den Vordergrund, weil Rennen doch zu weit aus meiner Welt waren – finanziell und räumlich. Zu Beginn der 1960er-Jahre war der Rallyesport im Umbruch begriffen: neben den traditionellen Langstreckenbewerben entwickelten sich die Sonderprüfungsrallyes, die Handicap-Wertungen bestimmten aber noch bis ca. 1965 die Klassements. Gleichzeitig war die Motorisierung in ganz Westeuropa so fortgeschritten, dass traditionelle Rallyes zunehmend Schwierigkeiten mit ihren Genehmigungen bekamen, weil Touristen auch auf den verlassensten Straßen unterwegs waren und damit die Rallyefahrer massiv behinderten – oder umgekehrt?
Aus der Vielzahl der europäischen Rallyes stachen einige hervor: Monte Carlo, Akropolis, 1000 Seen, RAC und die Liége–Rom–Liège/Liège–Sofia–Liège. Jede für sich hatte ein eigenes Profil, aber die „Liège“ war etwas ganz besonderes. Die seit den 1930er-Jahren veranstaltete Fernfahrt von Lüttich nach Rom und zurück, später nach Jugoslawien und zurück und schließlich nach Sofia und zurück war wohl die Spitze und das Ende der Rallyes im ursprünglichen Sinn. Es gab keine Sonderprüfungen, „nur“ bis zu 5.000 km in vier Tagen und vier Nächten mit einer Stunde Pause am Wendepunkt mit raffinierten Zeitvorgaben, welche den Behörden eine „vernünftige“ Rallye vorgaukelten.
In Österreich kannten nur ganz wenige Motorsportler diese Rallye, die auf Eingeweihte einen unüberwindlichen Reiz ausübte. Vor allen Dr. Arnulf Pilhatsch, Mitarbeiter in der Wolfgang Denzel-Organisation, suchte diese Herausforderung. Er nahm von 1959 bis 1964 jedes Jahr teil und errang den begehrten Goldpokal für dreimalige erfolgreiche Teilnahme (nach drei Ausfällen).
Ich verfolgte diese Rallye damals in den Zeitschriften – Auto Motor Sport (Joachim Springer), Autosport, Autocar, The Motor) und träumte naiv davon auch einmal dort mitfahren zu können. So stand ich am 28. August 1964 in der Nacht am Reschenpass in Tirol an der Grenze zu Italien, wo eine Passierkontrolle zum Eintritt in die Zivilisation eingerichtet war. Ich hatte schon einige Wertungsfahrten und Rallyes in Österreich gefahren, hatte daher eine ungefähre Ahnung, was sich dort abspielen könnte. Die Spannung und Betriebsamkeit waren beeindruckend – die Betreuungsmannschaften und Teammanager warteten auf die im Bewerb verbliebenen 21 (von 105) Teilnehmer, die nach der Zeitkontrolle in Trafoi am Fuß des Stilfser Jochs am Ende der letzten kritische Etappe noch in der Wertung waren.
Wie waren diese letzten Etappen, die nach ca. 4.000 km in der vierten Nacht zu bewältigen waren? Ich zitiere die Organisationsunterlagen des Jahres 1962, bestehend aus drei Blättern:
- Itineraire: … Masson (PK) – Arsiero – Posina – Colle Xomo (PK) – Ponte Verde – Valmorbia – Rovereto (ZK) – Riva – Ca Rossa – Bagolino (ZK) – Croce Domini – Bienna – Angola – Schilpario (ZK) – Passo di Vivione – Forno d’Allione – Edolo – Ponte di Legno – Passo di Gavia – Bormio – Passo di Stelvio – Trafoi (ZK) – Spondigna – Passo di Resia – …
- Tableau I Heures d’ouverture des controller: … Rovereto (samedi 17:45 au 21:45) – Bagolino (samedi 19:15 au 23:15) – Schilpario (samedi 20:45 au dimacnche 00:45) – Trafoi (samedi 23:30 au dimanche 04:00) – Passo di Resia (dimanche 00:45 au 4:45)
- Tableau II Temps impartis de contrôle à contrôle : …Rovereto – Bagolino 1:30 – Bagolino – Schilpario 1:30 – Schilpario – Trafoi 2:50 – …
Wenn wir davon ausgehen, dass in diesen Jahren die Passstraßen alle nicht asphaltiert waren und die Verbindungsstraßen entsprechend schmal waren, kann man ermessen, welcher Druck auf die Teilnehmer aufgebaut worden war. Im ersten Moment erscheinen die 2:50 Stunden für (heute) 140 km nicht besonders, weil „nur“ 49,5 km/h, aber die Verspätungen bis Rovereto hatten die Öffnungszeit schon entsprechend eingeschränkt. Die Sieger Aaltonen/Ambrose auf Healey 3000 hatten bereits 57 Strafminuten auf ihrem Konto, Dr. Pilhatsch/Karger auf Volvo 5 Stunden und 8 Minuten.
Die lapidare Auflistung der anzufahrenden Orte auf der Strecke (siehe Itineraire) kann die Schwierigkeiten nicht wiedergeben. Es gibt aus dem Verlag Harald Denzel in Innsbruck seit Generationen den „Großen Alpenstraßenführer“, aktuell in der 25. Ausgabe, aus der 12. Ausgabe aus dem Jahr 1972 habe ich die Beschreibung der Pässe der letzten Nacht entnommen:
- Schilpario – Passo di Vivione [Seite 340]: 1.828 m, schmale Straße mit 3 bis 4 m Breite, Steigung bis 12%, Schwierigkeitsgrad 3. Rauno Aaltonen erzählte mir im Mai 2013, dass 1961 zwei Betonpfeiler in Schilpario die maximale Durchfahrtsbreite des Passes markierten. Aaltonen fuhr mit Böhringer im Mercedes 220, sie mussten die Außenspiegel einklappen!
- Ponte di Legno – Passo di Gavia [Seite 328]: 2.621 m, 15 Kehren, Schwierigkeitsgrad 3, 15 – 16% Steigung. Rauno Aaltonen ritt 1963 auf dem Gavia aus, blieb mit dem Healey unter dem Geländer gerade noch hängen.
- Bormio – Stilfes Joch – Trafoi [Seite 324]: 2.757 m, Steigung bis 15%, in Summe 87 Kehren, Schwierigkeitsgrad 3. Die Engländer nannten den Pass „Daddy of them all“.
Wenn Sie nachlesen wollen, was sich „wirklich“ abgespielt hat, empfehle ich die Lektüre von Herbert Völkers „Das große Buch vom Rallyesport“, Wien, 1979, ISBN 385368-854-3, Kapitel „Liège“.
Weitere Literatur über diese Rallye:
- Jean-Paul Delsaux, Marathon de la Route 1931 – 1971, Nimes, 2004, ISBN 2-914920-42-3
- Trevor Alder, Marathon de la Route – The „Liege“, Ipswich, ISBN 1 85847 926 6
- Hervé Chevalier, Les Healey du marathon 1951 – 1964, Toulouse, 2005, ISBN 9-782351-240021
- Internet: http://www.forum-auto.com/sport-auto/histoire-du-sport-auto/sujet355035.htm
Der Marathon de la Route wurde 1964 das letzte Mal gefahren, dann erdrückte der Straßenverkehr diese Form des Sports – der Coupe des Alpes in Frankreich „verstarb“ 1971 aus den gleichen Gründen – der Veranstalter wich ab 1965 auf den Nürburgring (Nord- und Südschleife) aus, wo 84 Stunden mit einem rallye-ähnlichen Reglement zu fahren waren. 1971 war auch die Ausweichlösung Geschichte, die Professionalisierung hatte den Rallye-Ansatz ad absurdum geführt. 1968 erreichte Lancia mit Munari/Källström/Pinto den dritten Platz, 1969 gewannen Barbasio/Fall/Källström mit der Fulvia 1,6 HF (Prototyp) das Gesamtklassement.
Über die Geschichte Lancias bei dieser Rallye gibt es in der Lancia-Rundschau 2/2012 des LCD einen umfangreichen Bericht.
http://www.lanciaclubdeutschland.de/magazin.html?PHPSESSID=a12fe9080157ce0403322cc9a7dea54a
Werden nun Jugendträume erfüllt? Die Teilnahme an dieser Rallye war „glücklicherweise“ für mich nicht mehr möglich. Glücklicherweise deshalb, weil ich der Aufgabe sicher nicht gewachsen gewesen wäre (finanziell, materialmäßig, fahrerisch und konditionell). Aber der Traum blieb in abgewandelter Form erhalten, wenigstens die Bergstraßen wollte ich selbst befahren, um wenigstens einen verspäteten Eindruck der damaligen Herausforderungen zu erhalten. Stilfserjoch und Gavia befuhr ich noch in den 1960er-Jahren, der Vivione war damals noch Abenteuer. Jetzt, 50 Jahre später, machte ich mich mit meiner Fulvia auf den Weg in die Dolomiten, um die beiden letzten Etappen von Arsiera nach Trafoi zu erkunden. Es wurde mit An- und Rückreise ein Viertages-Unternehmen.
Allein der Weg zum ZK-Ort Arsiera gestaltete sich recht interessant, weil dabei Orte und Bergstrecken mit Rallyegeschichte passiert wurde. Allerdings gab es leider eine Menge von Baustellen und temporären Sperren, die Umwege notwendig machten. Erste Station war San Martino di Castrozza, einst und heute Start- und Zielort der gleichnamigen Rallye – siehe Bericht in der Rubrik Drivers Journal „Heimspiele“. Im Hotel bewunderte ein Mitarbeiter meine Fulvia und zeigte mir voller Begeisterung Bücher und historische Bilder der Munari-Zeit.
Am nächsten Tag ging es dann zur Sache, es gab etwas weniger Sperren, die gewünschten Pässe konnten befahren werden, aber … Drei Tage „bevölkerten“ zweirädrige Enthusiasten oder Irre, je nachdem, wie man die Straßenkameraden bezeichnen will: masochistische Radfahrer und oft rücksichtlose Motorradfahrer – je mehr um so gefährlicher. Die ursprünglich schmalen Sandstraßen, meistens eher Saumpfade, sind heute gut bis sehr gut asphaltiert, aber kaum breiter als früher. In den Morgenstunden kann man noch auf fast leere Straßen hoffen, doch am späten Vormittag wird es mühsam bis gefährlich. Der Ausbildungsstand der Motorisierten reicht kaum für die halbwegs vernünftige Bewältigung der Bergstraßen. In den meist unübersichtlichen Rechtskurven muss man mit langsamen Radfahrern rechnen und entgegenkommen kommen die flotten und „mutigen“ Motorradfahrer, meist aus Deutschland. Das Vergnügen verminderte sich stündlich, um schließlich am Stilfer Joch, das im oberen Teil übersichtlich ausgebaut ist, fast zu Qual zu werden.
Was ich aber, wie oben beschrieben, sehen und erfahren wollte, habe ich bekommen. Passo di Broncon, Passo di Xomo, Passo del Vivione, Passo di Gavia und Stilfes Joch. Die Bewunderung und Ehrfurcht für die „Helden“ der vormodernen Rallyezeit (bis Ende der 1960er-Jahre) ist deutlich gestiegen, auch weil sich Technik und Randbedingungen geändert haben.
Die Tagestouren von ca. 320 km erforderten mit wenig Pausen jeweils ungefähr acht Stunden Fahrt, die Fulvia wurde ordentlich beansprucht, bergauf und bergab – sie schlug sich sehr tapfer, schluckte auch den niederoktanigen italienischen Benzin ohne Murren und blubberte unbeeindruckt vom Timmelsjoch talwärts Richtung Innsbruck zum Autoreisezug.
Zu fotografieren gab es eher wenig, Foto auf jeder Passhöhe, meist in der Meute der Motorräder – Ausnahme Stilfer Joch, dieser Kultberg ist noch bloß ein hochgelegener Riesenparkplatz ausreichend vieler Motorräder, diesen Ameisenhaufen wollte ich nicht fotografieren.
Was neben den einmaligen Straßen, wie es sie in Österreich kaum gibt, in Erinnerung blieb, ist die italienische Begeisterung für die „bella macchina“ Fulvia. In San Martino di Castrozza, Borno, beim Tanken, bei den Pausen vor ländlichen Lokalen, bei Ortsdurchfahrten, bei denen ältere Frauen lachten und winkten, vom Brüllen der Fulvia bei über 4.000 U/min nicht gestört waren. Und der Autobusfahrer in Schilpario, mit ich auf einer engen Brücke zusammentraf, zurückschieben musste und der sich fachkundig sein Wissen bestätigt haben wollte: Haka Effe Milletre?!
Kann ich den Ausflug in die Dolomiten empfehlen? Eingeschränkt, denn der Termin war etwas zu spät gewählt, Juni ist besser, gutes Kartenlesen ist Voraussetzung, man fährt besser zu zweit, die Übernachtungsorte waren eher schwach (von Pensionisten) besucht, was das Restaurantangebot einschränkte und schließlich muss man einen tüchtigen Schuss Masochismus haben, um die Erfahrung machen zu wollen. Franz Casnys Reiseberichte animieren viel mehr zum Nachahmen.
Resumee: Mir hat es gefallen und ich kann nun die Leistung der Helden wie Rauno Aaltonen nur noch mehr bewundern.
E. Marquart /7.2013