Rallye San Martino di Castrozza

Rallye San Martino di Castrozza

31 Jan, 2021

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San Martino di Castrozza und „Umgebung“

Im Jahr 2011 hatte ich in der Rubrik „Über Lancia“ mehrere Rückblicke auf Rallyes der 1960er- und frühen 1970er-Jahre gebracht – regional gegliedert mit Schwerpunkt Einsätze der Fulvias. Die Quellenlage hat sich seit damals nicht nennenswert verbessert, aber Sekundärliteratur gibt es doch schon. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Datenqualität. In den letzten Jahren erschienen in England, Frankreich, Italien und sogar in Portugal Bücher, welche sich mit den regionalen Rallyes befassen. Die deutsche Rallyegeschichte – soweit erwähnenswert – ist nirgends entsprechend beschrieben, in Österreich haben Martin Pfundner und ich über die Rallyes dieser Zeit einige Bücher verfasst.

Seit Beginn der 1950er-Jahre gab es Fahrer-Europameisterschaften, ab 1968 auch Marken-Europameisterschaften, die ab 1973 zur Markenweltmeisterschaft erweitert wurde. Fahrer-Weltmeisterschaften gab es allerdings erst ab 1979. In jedem Land gab es nationale Meisterschaften als Summe mehrerer Bewerbe und in Mitteleuropa noch den deutsch-italienisch-österreichischen Mitropa-Cup, an denen sich mit zunehmender Intensität die Automobilhersteller beteiligten. Aus Bewerben für ambitionierte Privatfahrer wurden schließlich professionell organisierte und unterstützte Materialschlachten.

2011 hatte ich in lancianews den Bericht „Heimspiele“ veröffentlicht, in welchem ich die Einsätze des Reparto Corse Lancia bei den italienischen Rallyes kurz beschrieben hatte. Im Jänner 2021 habe ich als „buntes“ Bild die „Ergebnisse“ von Lancia bei der berühmtesten Sonderprüfung der Rallye Monte-Carlo, dem Col de Turini, zusammengestellt. Leider gibt es nicht von Sonderprüfungen anderer Rallyes über die Jahre die Ergebnisse in der notwendigen Detaillierung, auch in der Sekundärliteratur findet man sie nicht. In Italien ist die Quellenlage wegen der Motorsportzeitschiften „Auto italiana“ und „AutoSprint“ allerdings besser, sodass der nun folgende Bericht eine vollständigere Darstellung bringt.

Rallye San Martino di Castrozza – P. Donazzan

Rallye San Martino di Castrozza – P. Donazzan

Rallye San Martino di Castrozza – A. Biasioli

Neben den Erwähnungen in den zeitgenössischen Fachzeitschriften und Sammelbänden gibt es vier italienische Bücher, die sich mit der Rallye mit unterschiedlichen Schwerpunkten beschäftigten:

  • Bruno Bocca, Sam Martino di Castrozza 1964 – 1977, 2000, Edizioni Sileagrafiche, Silea. Ein opulentes s/w-Bilderbuch (Größe 297 x 420 mm) mit kompletten Nennlisten und Ergebnissen (tlw. auch Sonderprüfungen)
  • Beppe Donazzan, Tutti figli del San Martino – Storia di un rallye diventato leggenda, 2010, Limina, Arezzo, ISBN 978-88-6041-085-6. Ein persönlicher Rückblick des Autors auf die italienische Rallyeszene dieser Jahre – Personen, Autos und Ereignisse. Vollständige Ergebnislisten
  • Beppe Donazzan/Bianca Poli, San Martino – magìa di un rallye, 2014, antiga edizioni, Crocetta del Montello, ISBN 978-88-97784-80-9. Eine verbale und bildmäßige Würdigung der Rallye, Personen und Umgebung ergänzt mit Aquarellen der Malerin Bianca Poli. Vollständige Ergebnislisten.
  • Antonio Biasioli, Storia del San Martino – Orgoglio Rallystico Europeo, 2020, Editrice Elzeviro, Padua. Großformatige (Größe 340 x 240 mm, 256 Seiten) chronologische Gesamtdarstellung mit Nennlisten, Ergebnissen (ohne Sonderprüfungen), Interviews und Faksimiles.

Mit Hilfe dieser Literatur kann man die Entwicklung des Rallyesports in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Italien genau verfolgen: Länge der Strecken, Anzahl der Etappen, Anzahl der Sonderprüfungen und deren Länge, Anzahl der Teilnehmer in den verschiedenen Kategorien und Klassen. Aber auch die Bedeutung der Marke Lancia – für Privatfahrer und folgend der Einsatz des Reparto Corse Lancia. Motorsport war bis zum Erscheinen der Aurelia 1951 für Lancia „offiziell“ kein Thema seit den Gründungstagen. Die Erfolge der Aurelia bei Rennen und Rallyes führten unter Gianni Lancia bis 1955 bis an die Spitze der Formel 1, mit dem Tod von Alberto Ascari und den seit Jahren bestehenden finanziellen Schwierigkeiten endete das werksseitige Motorsportengagement 1955. Nach sporadischen, privaten Einsätzen mit Aurelia, Appia und Flaminia Zagato begann Cesare Fiorio 1962 bei der Rallye Monte-Carlo mit Flaminia Coupés den Wiedereinstieg in den Motorsport, was nach einigen Erfolgen zur Werksunterstützung führte, mit der Flavia vertrat ab 1963 die HF Squadra Corse neben Privatfahrern bei Rennen und Rallyes die Marke Lancia.

Rallye San Martino di Castrozza 1965 – Crosina/Maglioli

Rallye San Martino di Castrozza 1966 – Cella/Ramoino

 

Rallye San Martino di Castrozza 1967 – Cella/Barbasio

Mit dem Flavia Coupé und verstärkt mit der Fulvia Berlina bot Lancia „endlich leistbare“ Fahrzeuge für Privatfahrer an, die bald die Klassen Tourenwagen bis 1.150 / 1.300 ccm und GT bis 1.600/2.000 ccm füllten. Während die Flavia stets ein eher exklusives Fahrzeug blieb, wurde die Fulvia zum „Renner“: von einer Berlina im Jahr 1964 bis 44 Coupés 1972. Die wenigen Beta Coupé-Einsätze (zehn) wurden mit einer Ausnahme von Privatfahrers bestritten, beim Stratos waren es hinter zwei Werkswagen bis zu acht Privatfahrer, die die Lancia-Fahne hochhielten.

Rallye San Martino di Castrozza 1969 – Munari/Bernacchini

Rallye San Martino di Castrozza 1970 – Källström/Haggbom

 

Rallye San Martino di Castrozza 1970 – Platz 1 und 2

Die Anforderungen an die Teilnehmer wurden jährlich größer: Streckenlänge (bis zu 1.400 km) in bis zu drei Etappen, Anzahl der Sonderprüfungen (bis zu 32) und Länge der Sonderprüfungen bzw. „crono settori“ (in Summe bis 200 km) auf den großteils nicht asphaltierten Gebirgspfaden forderten ihren Tribut von den Startern, die Ausfallsquote lag meist bei über 50%. Für den beschriebenen Zeitraum 1964 bis 1977 galten die technischen Bestimmungen der Gruppen 1 bis 4, für welche viele Fahrzeuge homologiert waren, erst mit der Gruppe B ab 1982 waren mehrheitlich Werksfahrzeuge am Start, aber da war die Rallye San Martino di Castrozza bereits Geschichte geworden.

Wenn Sie jetzt die beiden untenstehenden Tabellen genauer betrachten, finden Sie die Marke Lancia an führender Stelle: Anzahl der Siege (mit drei verschiedenen Modellen Flavia, Fulvia und Stratos) und Abonnementsieger (Leo Cella zwei Mal und Sandro Munari sechs Mal).

 

 

1964

1965 1966 1967 1968 1969

1970

Länge

1130

1400 1300 1 450

1 326

Anzahl SP 1 6 9 8 14
Länge

3,5

32,5 70,5 70,0

107,0

Starter

61

78 55 61 84 89

106

Im Ziel

27

67 34 20 37 47

41

 %

44,3

85,9 61,8 32,8 44,0 52,8

38,7

Lancia am Start
 – Flavia

3

6 1

1

 – Fulvia Berlina

1

13 4
 – Fulvia Coupé

14

12 20 16

24

 – Beta
 – Stratos
Lancia im Ziel
 – Flavia

5

 – Fulvia Berlina

1

8

 – Fulvia Coupé

1

8 7 10 9

9

 – Beta
 – Stratos
Sieger-#

92

36 6 1

1

Crosina Cella Cella Munari Källström
Ital. Meisters.

1,0

1,5 1,5 1,6 x

x

Mitropa-Cup

x

x x x x

x

Europameister

x

 

Rallye San Martino di Castrozza 1971 – Munari/Mannucci

Rallye San Martino di Castrozza 1972 – Munari/Mannucci

Rallye San Martino di Castrozza 1973 – Munari/Mannucci

Die Siege der Herren waren meist recht eindrucksvoll, die Anzahl der SP-Erfolge und Differenz zum Zweitplatzierten erfreulich – der Vergleich mit Fußball-Heimspielen drängt sich auf. Besonders im Jahr 1971, als die HF Squadra Corse die Plätze eins bis vier belegte und fünf weitere 1,6 HF unter die ersten 15 kamen. Wenn Sie auf das Jahr 1972 schauen, als 44 Fulvia Coupés am Start waren, fragt man sich wie viele Prozent der Gesamtproduktion der 818.540 das damals waren.

 

 

1971

1972 1973 1974 1975 1976

1977

Länge

1 198

1 322

 1600  1140  1054
Anzahl SP

18

19 32 20 22

11

 26
Länge

142,0

148,0 213,8 140,6

161,0

 230,0
Starter

136

177 168 241 199 142

167

Im Ziel

52

79 69 111 83 68

73

 %

38,2

44,6 41,1 46,1 41,7 47,9

43,7

Lancia am Start
 – Flavia
 – Fulvia Berlina
 – Fulvia Coupé

41

44 29 37 18 5

10

 – Beta

1

2 5 1

1

 – Stratos

4

10

7

Lancia im Ziel
 – Flavia
 – Fulvia Berlina
 – Fulvia Coupé

18

17 11 11 8

4

 – Beta

1

 – Stratos

3

3

2

Sieger-#

1

1 1 1 2

1

Munari Munari Munari Pinto Darniche Munari
Ital. Meisters.

x

x x x x x

x

Mitropa-Cup

x

x x x x x

x

Europameister

x

x x x x x

x

Markenmeister

x

 

Rallye San Martino di Castrozza 1975 – Pinto/Bernacchini

Rallye San Martino di Castrozza 1976 – Darniche/Mahé

Rallye San Martino di Castrozza 1977 – Munari/Sodano

Sandro Munari war der ungekrönte König in den Dolomiten, sechs Siege als Fahrer, mit Arnaldo Cavallari 1964 im Alfa Giulia TI Sieger, 1965 mit Renault R8 Zweiter, 1968 Rekonvaleszent und 1970 nicht am Start. Die Sonderprüfungsergebnisse (Bestzeiten bzw. erreichte vorgegebene Zeiten) der Sieger zeigen folgendes Bild:

 

Jahr Anz. SP/C.S. Fahrer SP C.S. Diff.
1965

1

Crosina

1,185

1966

?

Cella

8,034

1967

6

Cella

1

1

64,573

Munari

3

1

1969

8

Munari

5

1

39,400

1970

14

Källström

4

8

30,500

1971

18

Munari

4

7

17,500

1972

19

Munari

7

15,800

1973

32

Munari

14

12

78,000

1975

22

Pinto

12

198,000

1976

11

Darniche

10

77,000

1977

?

Munari

66,000

Legende: SP = Sonderprüfung auf Bestzeit, C.S. = crono settori – vorgegebene Zeit

Ähnlich wie bei der Rallye Monte-Carlo wurden auch bei der San Martino in den vierzehn Jahren gewisse Bergstraßen mehrmals gefahren, sodass sich Traditionen bildeten – welche SP schaut „man“ sich an: Col Perér, Monte Grappa, Ghertele, Valstagna, Pampeago, Passo Manghen, Passo Duran, Passo Giau oder Passo Broncon? Beppe Donazzan widmet in seinem Buch der „Prova speciale Valstagna“ ein Kapitel – „heiliger Berg“ wie der Col de Turini.

Rallye San Martino di Castrozza – Roadbook („Radar“)

Leider ist die Quellenlage bei den anderen italienischen Rallyes dieser Zeit nicht so gut wie die der Rallye San Martino di Castrozza: Alpi Orientali (Buch von Bruno Bocca), Alpe della Luna, 999 Minuti und 4 Regioni (Buch von Piero Ventura) sind nur bruchstückhaft dokumentiert.

Nicht ganz so schlimm schaut die Lage bei den beiden „großen“ italienischen Rallyes dieser Zeit aus: Rallye dei Fiori/Sanremo (Franco Bonadonna) und Rallye dell‘ Isola d’Elba (Andrea Ulivelli/Mauro Parra) sind jeweils mit einem Buch fast ausreichend dokumentiert, Details zu den Sonderprüfungen sind in den Zeitschriften zu finden. Vielleicht Themen für weitere Lock-down-Heimarbeiten.

lancianews dankt Francesca Pasetti sehr herzlich für die Ergänzung der Tabellen mit Informationen auch ihrer Bibliothek. Mille grazie Francesca.

 

E. Marquart / 2.2021

San Martino di Castrozza – Juli 2013

1 Kommentar

  1. LIeber Hannes !
    Danke für Deine Recherchen über die „San Martino “
    Ich hatte das tolle Vergnügen an der letzten echten Rallye 1977 zuzuschauen. Es war die „Geburtsstunde “ von Walter Röhrl bei Fiat. Damals noch Opelfahrer wolle er auf seinem privaten Porsche an der Rallye teilnehmen. Aus verschiedenen Gründen warf er das „Handtuch (zu wenig Reifen, schlechte Straßen) und wollte schon heimfahren. Das kam meinem Fraund Daniele Audetto, damals Fiatrennleiter, zu Ohren und verplichtete Röhrl vom Fleck weg.
    Leider gab es bei dieer Veranstaltung auch trauriges zu berichten. Mike Parkes, der geniale Stratostechniker, verunglückte bei der Anfahrt zu dieser Veranstaltung leider tödlich. Die gesamte Fiatfamilie nahm an einer Trauermesse in San Martino teil.
    Viele Jahre später besuchte ich wieder die San Martinorallye die als Oldtimerveranstaltung weitergeführt wurde. Es war und ist immer eine Reise in die Dolomiten wert.
    Ich könnte allein über die“echte“ San Martino viele Geschichten erzählen aber das würde den Rahmen hier sprengen.

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