Col de Turini

Col de Turini

17 Jan, 2021

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Das wird jetzt wieder eine typische Spitzfindigkeit eines durch den Lock-down in Österreich an den PC „geketteten“ Lancia-Historikers. In den nun bald 20 Jahren von lancianews habe ich Unterschiedliches zur Sportgeschichte der Lancia-Fahrzeuge in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammengestellt. Zuerst die Fahrzeuge, dann die Bewerbe und schließlich die handelnden Personen. Da bleibt fast nichts mehr übrig, also jetzt auszugsweise Blicke auf die Straßen, über welche die Lancias geprügelt wurden.

Col de Turini – Michelin # 245

Bis Ende der 1950er-Jahre wurden Rallyes in Mitteleuropa hauptsächlich durch das zeitgerechte Erreichen der vorgegebenen Ziele entschieden, bei Zeitgleichheit wurden Geschicklichkeitsspiele als Unterscheidungskriterien herangezogen. Die Skandinavier war bereits einen Schritt weiter, sie sperrten Straßen und ließen die Teilnehmer auf die schnellste Zeit fahren – die Sonderprüfungen waren geboren. Nach „Überwindung“ der archaischen Handicap-Regeln, welche allen Fahrzeugen die gleiche Chance auf Sieg ermöglichen sollten, aber immer in gewünschte (?) Richtungen parteiisch waren, wurden in ganz Europa die Rallyes durch die bei den Sonderprüfungen gefahrenen Zeiten entschieden – einige „zurückgebliebene“ Veranstalter zogen allerdings die zeitgerechte Bewältigung der Strecke weiterhin in die Bewertung mit ein. Bis der zivile Verkehr Rallyes auf unabgesperrten Straßen ad absurdum führte.

Col de Turini – Skizze SP (Brägger)

Geografisch und topografisch bedingt wählten die Veranstalter nun mehr oder minder breite Straßen als Sonderprüfungen aus, soweit diese von den Behörden für den Sport freigegeben bzw. gesperrt wurden. Und da gab es in den Ländern unterschiedliche Usancen, welche den Charakter der Rallyes prägten. Platz genug in Finnland und Schweden, kein Platz in England – dort wurde in die privaten Wälder ausgewichen, nix Rallye in der Schweiz und Deutschland, Rückzugsgefecht in Österreich, bunt gemischt in Italien und erfreulich konziliant in Frankreich. So waren bestimmte Strecken bald feste Bestandteile der Rallyes, für die Teilnehmer und die Zuschauer – Freiluftarenen mit mehr (England) oder weniger (Frankreich) Zuschauerdisziplin.

Womit ich endlich beim Thema Col de Turini bin. Die traditionell im Jänner gefahrene Rallye Monte-Carlo nutzt seit Jahrzehnten nahezu alle Bergsträßchen der Seealpen im „Hinterland“ von Monaco. Darunter seit den 1960er-Jahren in beiden Richtungen die Straßen zum Col de Turini.

Der Col de Turini ist ein Pass in den französischen Seealpen im Hinterland der französischen Riviera. Die Passhöhe liegt im Département Alpes-Maritimes auf einer Höhe von 1.607 Metern. Der Pass liegt in der äußeren, besiedelten Zone des Nationalparks Mercantour und stellt den Übergang zwischen dem Tal der Bévéra und dem Tal der Vésubie dar. Die Passhöhe des Col de Turini ist von drei Seiten erreichbar: Vom westlich gelegenen La Bollène-Vésubie und jeweils von den südlich gelegenen Orten L’Escarène und Sospel. Nordöstlich führt eine mit „Origine Circuit de l’Authion“ beschilderte Straße, die sich nach etwa zwei Kilometern zu einer Ringstraße aufteilt. An dieser aussichtsreichen Straße im Massif de l’Authion liegen einige ehemalige Militäranlagen. [Col de Turini – Wikipedia]

Col de Turin – ohne Schnee

Die Wettbewerbsbedingungen haben sich in den letzten 60 Jahren allerdings geändert, aber der Col de Turini gehörte bis Mitte der 1970er-Jahre als fester Bestandteil zur Rallye, ein- bis drei Mal in beiden Richtungen – zuerst auf dem Weg nach Monte Carlo, ab 1965 als Sonderprüfung der Schleife Monaco – Monaco in der letzten Nacht, von den Journalisten blumig als „Nacht der langen Messer“ bezeichnet, weil nur noch die Bestplatzierten der Anreise und ersten Schleife zugelassen waren und dort die Entscheidung fallen musste. Bis in die 1990er-Jahre wurden Rallyes auch noch in der Nacht gefahren, danach wurden die nächtlichen Etappen schlicht gestrichen, weil es fernsehgerecht wohl zu wenig zu sehen gab. Eine Entwicklung, die wohl nur den Werbeleuten Freude macht, der Umweltgedanke und die Kostenersparnis reduzieren den Rallyesport auf Wochenenden im „abgesperrten“ Geläuf im Scheinwerferlicht des Fernsehens.

Die folgende Aufstellung und Bilder sollen die Ritte der Lancia über den Col de Turini von 1962 bis 1977 auszugsweise beleuchten, nach 1977 gab es zwar noch Siege (037, Delta S4 und Delta Gruppe A), aber die Professionalität der Werke und der damit verbundene Riesenaufwand an Vorbereitung, Material, Tricksereien auf offener Bühne ließ den Rallyecharakter in den Hintergrund treten – Formel 1 auf teilweise winterlichen Straßen.

Lancia trat nach dem Formel-1-Ende und der Nachdenkpause erstmals – der Sieg von Luis Chiron 1955 auf Aurelia B20 fiel noch in die Ära Gianni Lancia – 1962 mit drei privaten Fahrzeugen bei der Rallye Monte-Carlo an: Piero Frescobaldi/da Luca auf einer Flavia Berlina, Cesare Fiori/Marsaglia und Bagnasacco/Cavallari auf Flaminia Coupé Pininfarina. Bis zum Ende 1992 gab es danach jedes Jahr Werkseinsätze, bei denen geklotzt und nicht gekleckert wurde und die Konkurrenten nach der langen Durststrecke bis 1972 oftmals zu Statisten degradiert wurden – technisch und fahrerisch.

Col de Turini – Nächtliches Vergnügen

Aus Zeitschriften und Büchern habe ich die Ergebnisse der Sonderprüfung Turini herausgesucht, den jeweils Schnellsten und die Platzierungen der Lancia zusammengestellt – die Wetterverhältnisse und Tageszeit kann ich leider nicht ergänzen, doch diese Randbedingungen galten für alle Teilnehmer, Vergleiche über die Jahre sind daher nur bedingt möglich. Die Streckenlänge war 1962 35 km, dann 26 und großteils 23 km in beiden Richtungen.

 

Jahr Freq. Länge Zeit Fahrer Fahrzeug Pos.
1962

1

35

0:31:18 Böhringer Mercedes
1963

1

23,5

0:25:33 L. Bianchi Citroen DS
1964

1

23,5

0:23:29 Ljungfeldt Ford Falcon
1965

3

26

0:24:39 Mäkinen Mini GT

26

0:25:10 Mäkinen Mini GT

26

0:24:28 Mäkinen Mini GT
1966

3

23

0:23:30 Mäkinen Mini 1,3
0:24:41 Trautmann Flavia C. 8

23

0:24:01 Klass Porsche 911
0:25:10 Trautmann Flavia C. 7

23

0:24:08 Schlesser Porsche 911
0:24:58 Trautmann Flavia C. 10
1967

3

23

0:22:06 Andersson Fulvia HF

23

0:23:57 Aaltonen Mini 1,3
0:24:10 Andersson Fulvia HF 2

23

0:24:54 Andersson Fulvia HF
1968

3

23

0:19:44 Vinatier Alpine
0:20:27 Andersson Fulvia 1,3HF 8

23

0:19:45 Toivonen Porsche 911
0:20:29 Cella Fulvia 1,3HF 4

23

0:19:31 Elford Porsche 911
0:20:37 Cella Fulvia 1,3HF 7
1969

3

23

0:23:39 Waldegǻrd Porsche 911
0:23:20 Källström Fulvia 1,6HF 1
0:24:53 Ballestrieri Fulvia 1,3S 10

23

0:23:51 Vinatier Alpine
0:21:05 Källström Fulvia 1,6HF 1

23

0:23:21 Vinatier Alpine
0:23:03 Källström Fulvia 1,6HF 1
0:25:21 Ballestrieri Fulvia 1,3S 6
1970

3

23

0:21:34 Waldegǻrd Porsche 911
0:21:53 Lampinen Fulvia 1,6HF 3

23

0:21:33 Larousse Porsche 911
0:22:06 Ballestrieri Fulvia 1,6HF 5

23

0:21:41 Larousse Porsche 911
0:22:04 Barbasio Fulvia 1,6HF 4
1971

3

23

0:22:40 Andersson Alpine
0:23:28 Lampinen Fulvia 1,6HF 6

23

0:23:05 Lampinen Fulvia 1,6HF
23 0:23:53 Lampinen Fulvia 1,6HF
1972

3

23

0:21:53 Darniche Alpine
0:22:42 Barbasio Fulvia 1,6HF 5

23

0:21:44 Darniche Alpine
0:22:11 Munari Fulvia 1,6HF 3

23

0:22:29 Lampinen Fulvia 1,6HF
1973

3

23

0:21:50 Källström Fulvia 1,6HF

23

0:21:34 Piot Alpine
0:22:10 Källström Fulvia 1,6HF 7
23 0:21:25 Mäkinen Ford Escort
0:21:48 Källström Fulvia 1,6HF 6
1975

3

22,3

0:19:46 Munari Stratos

22,3

0:19:46 Munari Stratos

22,3

0:19:48 Munari Stratos
1976  3

22

0:18:20 Nicolas Alpine 310
0:19:29 Munari Stratos 7

22

0:17:51 Waldegǻrd Stratos

22

0:18:20 Waldegǻrd Stratos
1977

2

22 ?? Munari Stratos
?? Munari Stratos

Legende: Freq. = Anzahl der Prüfungen im Jahr, Länge = Länge SP in km, Fahrzeit in Minuten, Pos = Position der Lancia in SP, wenn nicht Schnellste. Für 1977 habe ich keine SP-Ergebnisse gefunden.

Col de Turini – 1962 M. Bianchi auf Flavia Coupé

Col de Turini – 1968 Andersson/Davenport

Col de Turini – 1968 Gastarbeiter Söderström/Palm

Wer genug Zeit hat, kann nun einer bedingt tiefgründigen Analyse der Turini-Ergebnisse von Lancia folgen, die im Kontext mit der technischen Entwicklung, den Sportgesetzen der FIA und den von den Werken dem Motorsport zugeschriebenen Werbewert des Rallyesports gesehen werden sollten. Und dem damit verbundenen finanziellen Einsatz:

  • Technik: Konventioneller Antrieb (Motor vorne, Antrieb hinten), Frontantrieb (bis zu einer gewissen Motorleistung), Heckantrieb (bis zum Bau von Spezialfahrzeugen wie Stratos) und schließlich Allradantrieb
  • Sportgesetze: Laufende „Korrekturen“ der FIA-Gesetze, um Dominanz bestimmter Marken einzuschränken, bis zur absoluten Spezialisierung der Gruppe B und Kehrtwendung zur Gruppe A
  •  Win on Sunday, sell on Monday: Aus dem Sport von mehr oder weniger betuchten Privatfahrern, die durch Erfolge die Unterstützung der Werke nutzen konnten, wurde ein beinharter Wettkampf der Werke mit bald unüberschaubarem Einsatz an Logistik und technischer Weiterentwicklung, der nur in kleinem Maße nachhinkend durch die Sportgesetze eingebremst wurde.

Col de Turini – 1971 Lampinen/Davenport 2 x Bestzeit

Wenn wir auf die von Lancia eingesetzten Fahrzeuge schauen, können wir die obigen Feststellungen nachvollziehen:

  • 1962: Flavia Berlina und Flaminia Coupé – bedingt geeignet für den Sport, Versuchsballone
  • 1963 – 1966: Flavia Coupé und Sport – untermotorisiert, zu schwer. Unter „ferner liefen“ einzureihen
  • 1966 – 1973: Fulvia Coupé – untermotorisiert, mit großem Aufwand (vier Motoren), guter Homologierungspolitik und Service 1972 zum Jahrhunderterfolg „getragen“, als die Hecktriebler ausfielen. Schon 1973 war das kleine Fenster wieder zu.
  • 1974 – 1978/79: Stratos – Spezialfahrzeug für den Rallyesport mit allen Möglichkeiten des FIAT-Konzerns. Wegen zu großem Erfolg von Sportgesetz und Konzernleitung „eingebremst“
  • 1981 – 1985: 037 – Sidestep in Verkennung der Allrad-Überlegenheit, mit hervorragenden Fahrern erfolgreich
  • 1985 – 1986: Delta S4 – Höhepunkt und unglücklicher Schlusspunkt der Gruppe B
  • 1987 – 1992: Gruppe A – Delta in verschiedenen Ausbaustufen, der Seriensieger.

Col de Turini – 1972 Barbasio/Sodano

Wie hat sich Lancia auf dem Col di Turini im Überblick geschlagen? In der Flavia-Periode konnte nur René Trautmann 1966 sich unten ersten Zehn platzieren, ab 1967 ging es mit der Fulvia in Wellenbewegungen aufwärts: Leo Cella und der erste Söldner Ove Andersson aus Schweden zeigten auf – hinter Minis war das allerdings wenig erfolgreich. 1969 war mit der Zweiteilung – Rallye Monte-Carlo und Rallye Mediteranée für Prototypen – etwas anders: Harry Källström wäre mit der 1,6HF mit drei Turini-Bestzeiten Gesamt-Zweiter geworden. 1970 kam Simo Lampinen zu HF Squadra Corse, war sofort mit an der Spitze, dann Überschlag und Lancia blieb weit hinter der Spitze. Ähnlich auch 1971, zwei Turini-Bestzeit von Lampinen.

1972 zeigte Lampinen bei der dritten Turini-Querung auf, Munari „staubte“ nach dem Alpine-Ausfall den Gesamtsieg ab, der seine Fulvia ins Museum, ihn und Mannucci in den Rallyehimmel beförderte. 1973 kam Munari nicht mehr in die letzte Schleife, ritt vorher aus. Källström zeigte bei seinem vorletztem Lancia-Einsatz bei der ersten Turini-Querung mit einer tollen Bestzeit auf, wurde Achter.

1975 – 1977 war Munari-Stratos-Zeit, vorbei die Underdog-Zeit für Lancia – mit Stallorder Gesamtsiege Munari, erst 1978 riss der Faden. Aber da war der Stratos bereits „Auslaufmodell“.

Soll ich jetzt noch eine „Besten-Statistik“ dazufügen? Interessanterweise waren die Lancias auf dem Turini oftmals die Schnellsten:

  • Ove Andersson: 1967 2 x
  • Harry Källström: 1969 3 x, 1973 1 x
  • Simo Lampinen: 1971 2 x, 1972 1 x
  • Sandro Munari: 1975 3 x, 1976 1 x, 1977 2 x
  • Björn Waldegǻrd: 1976 2 x.

Col de Turini – 1973 Källström/Billstam

Die 1980er und 1990er-Jahre sind in diversen Büchern ausführlich dargestellt – Z.B. Reinhard Kleins Jahrbücher und das berühmte „Gruppe B“-Buch, wo Sie alle Details nachlesen können.

E. Marquart / 1.2021

6 Kommentare

  1. Pegam Gerhard /

    Also das Bild „Turini – ohne Schnee“ zeigt wohl eindeutig die Westseite des Stilfserjochs, 😂🤣😂🤦🏻‍♂️

    • Ernst Marquart /

      Sehr geehrter Herr Pegam,
      danke für den Hinweis. Ich weiß, dass Sie sich nächstens auf dem Col de Turini herumgetrieben haben, ihn daher kennen.
      Ich habe bei der Recherche für den Artikel gegoogelt und bei Col de Turini Serpentine | Die spektakulärsten Bergwege | OrangeSmile.com das verwendete Foto gefunden.
      Die Ähnlichkeit mit dem Stilfser Joch ist zweifellos vorhanden. Aber mit dem Gebetbuch von der RMCH können Sie die Abweichungen sicher feststellen!
      MfG
      E. Marquart

  2. Fridolin Hefti /

    Ein sehr spannender Artikel den ich sehr genossen habe. Es ist immer wieder ein grosses Vergnügen Arikel von Heern Marquart zum Thema Lancia zu lesen – herzlichen Dank!

  3. Lieber Hannes !
    Was noch zu erwähen wäre das es früher bei der Monte sehr eigenartige Wertungen gab. Wenn mehr Personen im Fahzeug saßen gab es dafür Bonuspunkte. Weiters gab es bis Mitte der sechziger Jahre (glaube ich zumindest) eine sogenannte Handikatformel. Mit mehr Kubik wurde ein Multiplikationsfaktor dazu geschlagen. So konnte die Minis auch einmal gewinnen gegen den Porsche 904.
    Warscheinlich wenn die alten Ausschreibungen studiert kommt man auf so manch eigenartiges.

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