Fahrzeuge aus erster Hand, werksgepflegt

Fahrzeuge aus erster Hand, werksgepflegt

9 Sep, 2012

Wer erzählt mir die Geschichte dieses Autos? Ist die Sportgeschichte eines Lancia verkaufsfördernd? Wer will hier wem sein „Wissen“ als Wahrheit verkaufen?

Auch wenn die bei großen internationalen Auktionen angebotenen Lancia mit belegter Geschichte eher selten neue Eigentümer finden, so zeigen die Preisvorstellungen der Verkäufer – sicher abgestimmt mit den Auktionshäusern – erstaunlich hohes Niveau. Natürlich ist das im Verhältnis zu Ferraris oder Porsche bestenfalls Kleingeld, aber es freut den Lancia-Freund: Ganz wertlos sind die Autos doch nicht – rühmliche Ausnahme Stratos (Stradale und Gruppe 4), teilweise auch 037 und Delta. Aber Fulvia oder gar Flavia sind und bleiben Ladenhüter.

Fahrzeuge aus erster Hand: Prototyp Flavia Sport Targa Florio 1964 - Crosina/F. Frescobaldi

Fahrzeuge aus erster Hand: Prototyp Flavia Sport Targa Florio 1964 – Crosina/F. Frescobaldi

Woran das wohl liegt? Minderheitenprogramm Lancia? Oder auch an der kaum vorhandenen Dokumentation der Historie der Fahrzeuge oder gleich auch der Sportgeschichte der Marke? Da wurde im Mai 2012 in Monte Carlo bei RM ein (fast) einmaliges Fahrzeug verkauft, der Käufer bekam ein paar Fotos, einen Routeclassiche-Bericht und gute Worte mit – und das bei einem Preis von knapp 200.000,- €! Keine Dokumentation, keine offiziellen Papiere – dabei kennt die informierte Lancia-Szene das Fahrzeug seit Jahren. Alle Befragten antworteten umgehend, bestätigten die Echtheit, schickten x-mal die gleichen Fotos und Vermutungen. Lancia kennt das Fahrzeug offiziell nicht, obwohl es 1964 von der HF Squadra Corse eingesetzt worden war.

Fahrzeuge aus erster Hand: Auktionskatalog RM Monte Carlo Mai 2012

Fahrzeuge aus erster Hand: Auktionskatalog RM Monte Carlo Mai 2012

Doch das ist nicht das Thema des vorliegenden Artikels, es soll aber Thema eines umfangreicheren Artikels im Herbst 2012 werden. Womit ich Sie heute quälen möchte, sind „Abfallprodukte“ meiner Recherchen zur Lancia-Sportgeschichte mit Flavia und Fulvia – also für den Zeitraum 1962 bis 1974. Ich habe darüber vier Bücher geschrieben, zwei davon sind käuflich erwerbbar (in lancianews 2009 und 2010 vorgestellt) und zwei aus Copyrightgründen nicht erwerbbar. Vorabhinweise und andere Sichten des recherchierten Datenmaterials (Tabellen und Fotos) sind ebenfalls bei lancianews zu finden. Die Bücher hat zwar fast niemand gekauft, denn ca. 25,- € + Versandspesen sind für einen Lancia-Fan nicht leistbar, wenn schon ein Liter Super 100 fast 2,- € kostet.

Fahrzeuge aus erster Hand: Padua 2010 - die Gretchenfrage: "Ist die echt?"

Fahrzeuge aus erster Hand: Padua 2010 – die Gretchenfrage: „Ist die echt?“

Wenn, so wie 2010 und 2012 in Monte Carlo, echte Gruppe 4-Fulvias versteigert werden – und nicht verkauft werden, dann stellt sich für den Interessenten (?) und Fan die Frage: ist das Auto „echt“, stimmt die angegebene Geschichte, ist das Auto auch noch in einem „brauchbaren“ Originalzustand? In das Thema „echt oder unecht“ will ich hier nicht einsteigen, das ist ein Minenfeld. So hat mir ein Insider bestätigt, dass die „Nr. 16“ heuer in Monte Carlo papiermäßig echt war (sie stand 2010 bereits in diesem Zustand in Padua, wo wir sie mit Argusaugen umkreisten), aber so weitgehend restauriert war, dass man von einer „papier- und nummernechten“ Werks-Fulvia sprechen kann. Die mitgelieferten Daten zur Geschichte (Veranstaltungen, Ergebnisse) sind meist vollständig, nur bleibt immer ein Unsicherheitsfaktor, weil die Autos von Lancia auch an zahlungswillige Amateure vermietet wurden. Diese Einsätze sind meist nicht dokumentiert, ebenso wie die Verkäufe an Clubs, Einsätze als Mulettos usw. So findet man identifizierbare Fahrzeuge manchmal als „Hintergrund“ auf Fotos nationaler italienischer Rallyes oder als Servicefahrzeuge der Beta- und Stratos-Epoche.

Fahrzeuge aus erster Hand: 1971 Siege bei der 999 Minuten- und der Semperit Rallye mit Munari/Mannucci - und wer war das?

Fahrzeuge aus erster Hand: 1971 Siege bei der 999 Minuten- und der Semperit Rallye mit Munari/Mannucci – und wer war das?

Wie und wo kann „man“ die Geschichte von Werkswagen finden. Vorab: Es gibt keine offiziellen Aufzeichnungen, nur Handzettel von Gianni Tonti, von denen Carlo Stella Kopien hat! Das ist alles.

Fahrzeuge aus erster Hand: Hier finden Sie die telaios und teilweise die Zulassungsnummern der Werksautos

Fahrzeuge aus erster Hand: Hier finden Sie die telaios und teilweise die Zulassungsnummern der Werksautos

Wie bereits mehrfach erwähnt gibt es in zwei Büchern (E. Altorio, Lancia Fulvia HF und W.O. Weernink, The Lancia Fulvia and Flavia) Tabellen der offiziell von Lancia eingesetzten Flavias und Fulvias (telaio und Zulassungsnummer TO xxxxxx), allerdings nur für Fulvia vollständig, die Flavias bleiben im Nebel der Geschichte großteils nicht identifizierbar. Mit der Hilfe der Sekundärliteratur (Bücher, Zeitschriften und Zeitungen) sowie Fotomaterial konnte ich die ca. 550 Einsätze bei 240 Bewerben zu ca. 90% zuordnen – und Fragen mit Hilfe von Microsofts EXCEL sekundenschnell beantworten. Meine oben erwähnten Bücher enthalten diese Tabellen, Fotos und exakte Hinweise, wo in Literatur, Bildarchiven und eingeschränkt im Internet diese Identifikationen nachvollzogen werden können.

Carlo Stella hat in seinem Buch „Zagato – Fulvia Sport Competizione“ 2002 die Geschichte ausgewählter Fahrzeuge minutiös beschrieben, das fehlt für das Fulvia Coupé auch ansatzweise. Meine Bücher sind (hoffentlich) ein Vorgriff auf Stellas ultimatives Fulvia-Buch.

Das sind die wahren Helden, die Mechaniker des Reparto Corse Lancia, sie hielten die Autos am Leben - und freuten sich mit den Fahrern

Das sind die wahren Helden, die Mechaniker des Reparto Corse Lancia, sie hielten die Autos am Leben – und freuten sich mit den Fahrern

In dem lancianews-Beitrag „Fulvia-Datensumpf“ vom Mai 2010 habe ich einige „schräge“ Sichten auf das Datenmaterial dargestellt. Heute möchte ich die Einordnung der Fahrzeuge/Einsätze in „bürgerliche“ Kriterien vorstellen:

  • Wie lange lebten die Werks-Fulvias?
  • Wie viele Einsätze in welcher Frequenz/Zeitraum?
  • Hatten die Fahrer bevorzugte Fahrzeuge?
  • Siegertypen?

Was wir hier nicht beantworten können, sind emotionelle Aspekte – Bücher haben Schicksale, Wettbewerbsfahrzeuge sicher auch – das Ausscheiden aus dem Wettbewerbskampf, das „Verkommen“ zu Mulettos, das Verschwinden aus dem Fuhrpark bis zur Verschrottung – in der Literatur sind nur ganz wenige Verschrottungen erwähnt (z.B. TO B99805 nach nachgewiesenen 15 Einsätzen zwischen Jänner 1970 und Juli 1972). Thomas Popper hat eine Menge Fotos aus den Alben der Werks-Mechaniker, welche einst stolze Flavia Coupés voll bepackt mit Reifen und Benzinkanistern als Servicefahrzeuge zeigen.

Mit dieser Flavia fuhr Munari 1966 die Rallye Monte Carlo - hier Bertreuung für die Rallye San Martino di Castrozza 1967

Mit dieser Flavia fuhr Munari 1966 die Rallye Monte Carlo – hier Bertreuung für die Rallye San Martino di Castrozza 1967

Wie lange lebten die Werks-Fulvias?
Diese Frage ist einerseits in Zusammenhang mit der ständigen Weiterentwicklung von HF über 1,3 HF zur 1,6 HF zu sehen und andererseits mit der Beanspruchung durch den Wettbewerbseinsatz. Die HF wurden im Februar 1966 homologiert, ein Jahr später die 1,3 HF – beides Typen, welche auch in kleinen Stückzahlen verkauft wurden, aber auch beides Typen, die dem Mitbewerb leistungsmäßig unterlegen waren. Es „musste“ daher die 1,6 HF her, die erst ab Herbst 1969 eingesetzt werden konnte. D. h. ein Jahr HF (12 Fahrzeuge), 2 ½ Jahre 1,3 HF (27 Fahrzeuge) und schließlich nicht ganz sechs Jahre 1,6 HF (40 + 20 Fahrzeuge). In den Übergangsperioden, wo Fahrzeuge wettbewerbsspezifisch modifiziert wurden (klassen- und gruppenspezifisch: 1300 oder 1600 ccm, Gruppe 1/2, 3/4 oder 6) fuhren ein- und dieselben Fulvias in verschiedenen Ausführungen. Ich zähle hier nur die „Spitzenreiter“ auf:

Fahrzeuge aus erster Hand: München-Wien-Budapest 1966: Cella/Lombardini in Weyer(OÖ)

Fahrzeuge aus erster Hand: München-Wien-Budapest 1966: Cella/Lombardini in Weyer(OÖ)

HF: ca. 65 Einsätze in Rallyes und Rennen, TO 858492 (001485) mit neun Starts 2.67 bis 3.68 sowie TO 789486 (001009) mit acht Starts zwischen 2.66 und 3.67.

Munari 1967 in Korsika (1. Sieg) und 1969 bei der Rally Sanremo (ausgeschieden)  Munari 1967 in Korsika (1. Sieg) und 1969 bei der Rally Sanremo (ausgeschieden)
Munari 1967 in Korsika (1. Sieg) und 1969 bei der Rally Sanremo (ausgeschieden)

1,3 HF: ca. 190 Einsätze in Rallyes und Rennen: TO 953013 (001237) mit elf Starts 11.67 bis 3. 69, TO 970370 (001273) mit elf Starts zwischen 1.68 und 11.69 sowie TO 970371 (001282) mit ebenfalls elf Starts zwischen 1.68 bis 3.69. Nicht zu vergessen die drei Umbauten zu den F&M-Barchettas.

Fahrzeuge aus erster Hand: Ballestrieri/Maiga Rallye della Luna 1973

Fahrzeuge aus erster Hand: Ballestrieri/Maiga Rallye della Luna 1973

1,6 HF: ca. 200 Einsätze in Rallyes und ganz wenigen Rennen: TO B51445 (001008) mit 15 Starts von 9.69 bis 7.73, TO B51443 (001004) mit 12 Starts von 8.69 bis 9.1972 sowie TO B99805 (001320) mit 14 Starts zwischen 1.70 und 7.72.

RAC Rallye 1970 - 2. Sieg für Källström/Haggbom mit Unterstützung von C. Fiorio "abwärts". Aber auch letzter Einsatz dieser Fulvia!

RAC Rallye 1970 – 2. Sieg für Källström/Haggbom mit Unterstützung von C. Fiorio „abwärts“. Aber auch letzter Einsatz dieser Fulvia!

Von diesen Fahrzeugen „leben“ heute nachweislich nur noch eine HF in Italien, zwei 1,3 HF in England und der Schweiz sowie alle drei Barchettas in Italien und 18 1,6 HF irgendwo zwischen Italien und Japan.

Fahrzeuge aus erster Hand: Eine vielbewegte "Überlebende - hier in Goodwood 2008

Fahrzeuge aus erster Hand: Eine vielbewegte „Überlebende – hier in Goodwood 2008

Wie viele Einsätze in welcher Frequenz/Zeitraum?
Diese Frage ist oben schon teilweise beantwortet – Frequenz und Zeitraum. Aber die Mehrzahl der Fahrzeuge hatte unterschiedliche Schicksale, wobei das Ende der Laufbahn nur ganz selten dokumentiert ist. Zwischen  dem nur zwei Mal eingesetzten „Museumsstück“ TO E24266 (002256) – Monte Carlo 1971 mit Lampinen/Davenport und Monte Carlo 1972 mit Munari/Mannucci, den in Ostafrika „verglühten“ Fulvias, die nur ganz selten nach Europa zurückkamen, gibt es die ganze Bandbreite. Die 1,3 HF TO 95301x brachten es durchschnittlich auf acht Einsätze in 1 ½ Jahren, die TO 97037x auf über zehn Einsätze 1968 und den ersten Monaten 1969. Hartnäckig waren die ersten 1,6 HF TO B5144x, die vom Sommer 1969 bis Ende 1972 durchschnittlich zehn Einsätze überlebten. Von dann an ging es mit der Einsatzdauer stetig bergab, mit wenig Ausnahmen gab es kaum mehr als fünf oder sechs Starts (die oben erwähnte TO B99805, TO E51664, TO G75936 und TO G75937 – die drei letztgenannten sind auch heute noch unterwegs). Mathematisch ließe sich der Durchschnitt errechnen, doch die Charakteristik der Veranstaltung (Länge und Straßenverhältnisse) sowie Entfernung von Turin – die Fahrzeuge wurden bis Herbst 1972 = Einstieg von Marlboro = Transporter meist per Achse zum Start und (soweit möglich) wieder zurückgefahren.

Fahrzeuge aus erster Hand: Pat Moss-Carlssons Streitross 1968 - 6 Einsätze

Fahrzeuge aus erster Hand: Pat Moss-Carlssons Streitross 1968 – 6 Einsätze

Hatten die Fahrer bevorzugte Fahrzeuge?
Diese Frage kann man mit wenigen Ausnahmen mit nein beantworten. Der Zusammenhang zwischen Terminkalender, zu erreichende Ziele (Meisterschaften), Verfügbarkeit der Fahrzeuge nach Transport, Wartung, Einbau der Verbesserungen etc. ergab ein gut gemischtes Einsatzmuster. Pat Moss-Carlsson fuhr 1968 mit der TO 970371 (=001282) sechs Bewerbe, Ballestrieri/Bernacchini fuhren 1971 sieben Bewerbe mit der TO E51661 (= 002261), sonst fuhr jeder fast jedes Auto. Das Ehepaar Trautmann setzte in Frankreich meist zwei Fahrzeuge ein: TO 953013 (9 Bewerbe 1968) und TO 970370 (5 Bewerbe 1968/69), die in unterschiedlichen Ausbaustufen (Gruppe 1/2, 3/4 oder 6) unterwegs waren. Wer Erbsen zählen will, der kann aus den Startlisten erheben, dass Munari auf 43 (auf TO E51664 fünf Mal), Källström auf 31 (auf TO 970377 vier Mal) verschiedenen Fulvias unterwegs waren.

Fahrzeuge aus erster Hand: 1000 Minuten Rallye 1971: Service für Munari am Morgen des 2. Tages

Fahrzeuge aus erster Hand: 1000 Minuten Rallye 1971: Service für Munari am Morgen des 2. Tages

Siegertypen
Der Sonderfall der „Nr. 14“ = TO E24266 bleibt alleine, diese Fulvia erreichte einen sechsten Platz 1971 und einen Sieg 1972 in Monte Carlo, die restlichen Siegertypen wurden „dokumentationslos“ verbraucht, keine Ehrfurcht vor den erzielten Siegen. 76 Siege mit 50 Fahrzeugen – fünf mit TO 953013, vier mit TO G75937 und drei mit TO B99805.

Fahrzeuge aus erster Hand: Zwei Siege 1971 - heute in der Schweiz zu Hause und artgerecht bewegt

Fahrzeuge aus erster Hand: Zwei Siege 1971 – heute in der Schweiz zu Hause und artgerecht bewegt

Bleiben da noch Fragen offen? Diese Abfallprodukte der Recherchen bieten ein buntes Bild, das allerdings immer mit der nötigen Vorsicht zu betrachten ist, weil die Grundlage nicht offizielle Daten sondern mühsam zusammengetragene Informationen aus zweiter und dritter Hand sind. Womit wir wieder bei der Feststellung der einführenden Absätze sind.

E. Marquart / 9.2012

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