Und wie kommt die viele(?) Kraft auf den Boden?

Und wie kommt die viele(?) Kraft auf den Boden?

28 Apr, 2019

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Nach unserem Beitrag über die verfügbaren FIA-Homologierungsblätter in der Rubrik „Technik“ im Februar 2019 wollen nun in einer kleinen Artikelreihe auf die Präparierungsmöglichkeiten des Reparto Corse Lancia für die von 1968 bis 1972 eingesetzten Fulvias zurückblicken: Federung – Räder und Reifen – Übersetzungen. Der dritte Beitrag beschäftigt sich mit den Getriebeübersetzungen.

 

Da überlegen sich die Konstrukteure – nach den Vorgaben des Marketings/Vertriebs?? – wie sie die durch die steuergesetzliche Beschränkung nicht allzu große Motorleistung verbraucherfreundlich auf die Straße bringen: der Kompromiss zwischen Beschleunigung, Höchstgeschwindigkeit, Benzinverbrauch und Konstruktionskosten ergibt dann eine Auslegung, die es fast niemand recht machen kann. Irgendjemand wird immer unzufrieden sein.

Die technische Entwicklung der Kraftübertragungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – die Automatikgetriebe lassen wir hier beiseite – brachte eine laufende Vermehrung der „notwendigen“ Vorwärtsgänge. Anfang der 1960er-Jahre machte ich meinen Führerschein mit einem 3-Gang-Opel, mein erstes Auto war eine Renault Dauphine Gordini – mit vier Gängen! Die normale Dauphine hatte damals nur drei Gänge.

 

Fulvia – Kraftübertragung [Enzo Altorio, Lancia Fulvia HF]

Die eher untermotorisierten, nicht leichtgewichtigen Lancia-Limousinen waren mit vier Gängen ausgestattet, in der Ära von Professor Fessia dazu noch mit Frontantrieb, das sollte für die gutbürgerliche Klientel ausreichen. Aber Alfa Romeo begann damals bei fast allen Fahrzeugen bereits 5-Gang-Getriebe einzubauen – Motorcharakteristik und der sportliche Anspruch der angepeilten Kunden machten dies notwendig. Bis 1969 konnte Lancia diese Herausforderung „ignorieren“, dann kam auch das 5-Gang-Getriebe für Fulvia Berlina und Coupés.

Schon mit der Flavia wurde ab 1962 Motorsport betrieben, es waren zwei 4-Ganggetriebe und sechs Übersetzungen homologiert. Das musste für den langsamen Einstieg reichen. Aber bei der Fulvia, die ab Jänner 1966 professionell im Renn- und Rallyesport eingesetzt wurde, reichten die Serienübersetzungen nicht mehr, sehr schnell wurde mehrere Varianten homologiert:

Fulvia S1 – das 4-Ganggetriebe

  • 1,3 HF           4-Gang: 12 Übersetzungen und drei 4-Ganggetriebe
  • 1,3 HF           5-Gang: 10 Übersetzungen und drei 5-Ganggetriebe
  • 1,6 HF           5-Gang: 10 Übersetzungen und vier 5-Ganggetriebe.

Fulvia S1 – das 5-Ganggetriebe

Wie bereits ausreichend oft erwähnt hat Gianni Tonti in seinem Buch „Reparto Corse Lancia“ seine Aufzeichnungen „Quaderni“ veröffentlicht, in welchen er die Präparierungen der eingesetzten Fahrzeuge genau dokumentiert hat. Über die verwendeten Federpakete und Reifen habe ich bereits berichtet, nun sind die Übersetzungen dran. Welche Gangübersetzungen eingesetzt wurden, ist nicht protokolliert, aber man kann sehr wohl erkennen, bei welchen Bewerben mit welchen Differenzialübersetzungen gefahren wurde. Interessanterweise gibt es kaum Unterschiede zwischen den einzelnen Fahrern, nur bei wenigen Rallyes – z.B. Alpi Orientali 1972 – wurden unterschiedliche Übersetzungen gefahren.

Fulvia S1 – das Differenzial

Ab Jänner 1972 wurden Sperrdifferenziale eingesetzt, zuerst von Borg Warner, dann auch von ZF. Leider hat Tonti die Präparierungen der Saison 1973 – der letzten Phase der „ausgereizten“ Fulvias – nicht mehr protokolliert, der Stratos hatte Priorität 1 bekommen. Die Spannweite der Übersetzungen reichte bei der 1,3 HF von 3,7:1 bis 5,86:1, bei der 1,6 HF von 3,7:1 bis 5,86:1. Abhängig von den Anforderungen der Veranstaltungen wurden dann die Übersetzungen gewählt: 24 Stunden von Daytona 1968 10×37 Zähne, Nürburgring 1968 10/43, Safari 1971 und Targa Florio 10/43, im „Gebirge“ zwischen 8×41 und 8×43 Zähnen.

Mit den unterschiedlichen Radgrößen – 13“ oder 14“, 5“ bis 7“ Breite – ergab sich ein breites Spektrum der Anpassungsmöglichkeiten. Und wohl ein riesiges Lager an Bestandteilen – in Turin und unterwegs – wie viele Getriebe/Differenziale wurden da bereitgehalten? Wie lange „lebte“ ein Getriebe, bis es überholt werden musste? Technologische Weiterentwicklungen der Zahnräder material- und steigungsmäßig bis zur Geradeverzahnung.

Fulvia S1 – das 5-Ganggetriebe „tipo Rally“

Tonti protokolliert ab 1971 bei den eingesetzten Getrieben („cambio“) oftmals „tipo rally“ oder „tipo pista“, die sich durch die Übersetzungen der einzelnen Gänge unterschieden: „tipo rally“ prinzipiell sehr enge Abstufungen, damit fast immer ein passender Gang da war, aber keine hohe Spitzengeschwindigkeit. Bei „tipo pista“ ein sehr langer 1. Gang zum schnellen Erreichen hoher Geschwindigkeit beim Start, dann die weiteren Gänge wieder eng abgestuft.

Dazu kommt noch ein Nebenaspekt, den wir heute nur noch bedingt einordnen können: die Entfernungen von Turin zum Start bzw. Ziel einer Veranstaltung. Warum? Erst mit dem Vertrag mit Marlboro im Herbst 1972 konnten Transporter für die Rallyefahrzeuge angeschafft werden, davor mussten die Wagen meist per Achse (natürlich nicht nach Kenia zur East African Safari) überstellt werden, was für alle Beteiligten eine große logistische Aufgabe darstellte: wer fährt die Fulvias wann – hin und zurück? Von zerknitterten Wagen irgendwo im Wald wollen wir hier gar nicht reden. Fahrer, Beifahrer, Mechaniker (die hatten ja die Servicefahrzeuge vor Ort und nach Hause zu bringen) durften die Rallyefahrzeuge überstellen. John Davenport hat beispielhaft von Simo Lampinens Schicksal nach der TAP Rallye 1970, die in Estoril in Portugal endete, erzählt (powerslide 12/1970). Lampinen fuhr mit einer Fulvia von Estoril nach Madrid, von wo er heim nach Finnland fliegen wollte. Doch dann „bat“ ihn Cesare Fiorio für den privat verhinderten Sergio Barbasio bei der Rallye der 1000 Minuten in Österreich einzuspringen – also fuhr Lampinen gleich weiter von Madrid nach Turin, um dort den Wettbewerbswagen zu übernehmen und nach Wien zu überstellen. Die Entfernungen können Sie mit dem Routenplaner nachrechnen, diese sind heute mit Autobahnen aber deutlich komfortabler als 1970, und jetzt rechnen Sie bitte mit:

Fulvia S1 – Übersetzungsdiagramm

Die serienmäßigen 1,6 HF waren 10/37 = 0,270 übersetzt, was bei Reifen 173×13“ (= 1.850 mm Umfang) bei 5.500 U/in (eine gerade noch vertretbare Geräuschkulisse) 165 km/h ergab. ABER: die Fulvia TO B51446 war in Portugal 8/41 = 0,195 übersetzt, was bei den angegebenen Reifen und Drehzahl heiße 120 km/h ergab. Die meist eingesetzte Übersetzung bei den 1,3 HF war jedoch 7/41 = 0,170 entsprechend 101 km/h! Wahrscheinlich fuhren die Herren alle mit etwas mehr als 5.500 U/min heimwärts, was für die Qualität der Motoren spricht.

Das Reparto Corse Lancia experimentierte aber über diese homologierten Varianten hinaus noch mit zusätzlichen Vorschaltgetrieben zu den 4- und 5-Gang-Getrieben, wenn es die Ausschreibungen der Bewerbe erlaubten – in der Gruppe 6. Darüber habe ich keine Literatur gefunden, Tonti erwähnt diese Experimente, die aber meist mit Ausfällen endeten. Die „viele“ Kraft der Fulvia-Motoren bei viel zu hohen Drehzahlen erforderte unkonventionelle Ideen. Das waren 1968: Gran Premio della Repubblica – Vltava – Mugello – Imola – 6 Stunden Nürburgring – Marathon de la Route – RAC, ab 1969 setzte man das 5-Ganggetriebe meist „tipo rally“ ein, die Zeit der Experimente war wohl vorbei.

Zusammenfassend aus zeitlich weiter Entfernung betrachtet entsprachen Lancias Möglichkeiten denen des Mitbewerbes, der Frontantrieb in Verbindung mit der gestiegenen Leistung der Motoren erforderte dann bald den Einsatz von Sperrdifferenzialen, die allerdings nicht nur Vorteile brachten: die sehr hohen notwendigen Lenkkräfte (in Zusammenspiel mit der direkteren Lenkung) und das gewöhnungsbedürftige Einsetzen der Sperre erforderten geänderte Fahrtechnik. 1972 ging dann auch die Ära der Fronttriebler langsam zu Ende, der Markentitel des Jahres 1972 für Lancia war dann auch der letzte für dieses Antriebskonzept.

 

Fulvia 1,6 HF im Gleichmäßigkeitssport – Ennstal Classic 2009

Als Treppenwitz des Motorsports kann die Entwicklung des Gleichmäßigkeitssport ab dem Jahr 2000 gesehen werden, wo zuerst mit serienmäßigen Fahrzeugen um 1/10 Sekunden gekämpft wurde. Als dann die Anforderungen durch Befahren enger Straßen mit Kurven und Abzweigungen hinaufgesetzt wurden, waren plötzlich die normalen Übersetzungen viel zu lange, um die geforderten Durchschnitte an jeder möglichen und unmöglichen Stelle der Sonderprüfung zu fahren. Also wurde nach kürzeren Übersetzungen gesucht. Speziell bei den viel genutzten Fulvia Coupés war der Bedarf groß. Aber die Getriebespezialisten, die die Übersetzungen nach Bedarf umbauen, gibt es nicht mehr. Da begann die Suche nach Fulvia Berlina-Getrieben, welche deutlich kürzer als 10/37 = 0,27 übersetzt waren, nämlich von 0,219 bis 0,243 bei früher etwas größerem Radumfängen. Welche Übersetzung beim Kauf des Getriebes man da erwischte, musste dann durch Messungen mit Haldas festgestellt werden. Womit sich der Kreis zum Titel des Beitrages schließt – diesmal nicht um so schnell wie möglich, sondern um so gleichmäßig wie möglich zu fahren.

 

E. Marquart / 4.2019

Gert Hack – „Rallye-Autos“ – die zeitgenössische Fachliteratur

Sollten Ihnen die obigen Ausführungen zum Thema Übersetzungen zu unübersichtlich oder erklärungsbedürftig sein, dann empfehle ich Ihnen die Lektüre der beiden Bücher „Rallye-Autos“ von Gert Hack aus den Jahren 1969 (erste Auflage) und 1979 (zweite Auflage ISBN 3-87943-646-0) aus dem Motorbuch Verlag Stuttgart. In beiden Büchern werden in Bezug auf die damals aktuellen Bestimmungen der FIA Anhang J die technischen Möglichkeiten beschrieben und erklärt – das war die Zeit, in welcher die Fulvias des Reparto Corse Lancia unterwegs waren.

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