In den steirischen Bergen …

In den steirischen Bergen …

3 Sep, 2017

 

Im Juli 2013 hatte ich von der späten Erfüllung eines Jugendtraumes erzählt – Rubrik Drivers Journal „Jugendtraum“ – als ich mich mit meiner Fulvia die Straßen suchte und nachfuhr, welche die 1964 zum letzten Mal veranstaltete Rallye Spa-Sofia-Liège (Marathon de la Route) als vorletzte Etappe befuhr. Nach vier Tagen in der vierten Nacht und ungefähr 4.200 km waren mit 50 km/h Schnitt die Dolomitenpässe Vivione, Gavia und Stilfser Joch zu fahren. Eine heute kaum noch vorstellbare Anforderung mitten im sommerlichen Urlaubsverkehr.

Als 1965 der Veranstalter „Le Royal Motor Union“ in Lüttich gezwungenermaßen mit seiner „Rallye“ auf den Nürburgring – Nord- und Südschleife – auswich, gab es noch einen mutigen Epigonen, der das Liège-Sofia-Liège-Zeitnahmekonzept (der einander überschneidenden Öffnungs- und Schließzeiten) weiterführte. Und das mitten in Europa: der Wiener Club RRC13 unter Leitung von Kurt Sassarak wandte das Konzept von 1964 bis 1966 bei der Rallye der 1000 Minuten an, dreimal gewann Dr. Arnulf Pilhatsch, der von 1962 bis 1964 in Lüttich ins Ziel gekommen war, die damals härteste österreichische Rallye. Aber 1967 war es auch in Österreich nicht mehr möglich, so an den Behörden vorbei die Geschwindigkeitsvorgaben in ungeahnte Höhen zu treiben. Zuerst noch ziemlich mutig mit Kurzetappen als Entscheidungskriterien, aber ab 1969 „brav“, wie international üblich, mit Sonderprüfungen auf abgesperrten Straßen. Weil ab 1970 als Europameisterschaftslauf keine Sonderlocken mehr möglich waren.

1000 Minuten Rallye 1970 - Ballestrieri/Audetto beim Start in Wien

1000 Minuten Rallye 1970 – Ballestrieri/Audetto beim Start in Wien

Aber wo waren selektive Sonderprüfungen zu finden? Niederösterreich – Wein- und Waldviertel sowie das Alpenvorland war schon ausgiebig genutzt worden, neben dem Mühlviertel blickte Kurt Sassarak also „über den Semmering“, wo es viele interessante, abgelegene und verkehrsarme Straßen für seine Rallye gab. So wurden ab 1969 die entscheidenden Sonderprüfungen – Schotterstraßen, nächtens und ausreichend selektiv – in der Steiermark gefahren:

  • „Mürztal“ Aflenz – Turnau 11 km: 1969, 1970, 1971, 1972 und [1973]
  • „Stübinggraben“ Großstübing – Geistthal 16 km: 1969, 1970, 1971
  • „Gollersattel“ in beiden Richtungen 11/13 km: 1969, 1970, 1971, 1972 und [1973]
  • „Sengerberg“ Edelstauden – Petersdorf II 9 km: 1970, 1971
  • „Pleschalm“ Rein – Gallmannsegg 15 km: 1971, 1972 und [1973]
  • „Piregg“ Fischbach – Abzw. Gasen 11 km: 1972 und [1973]
  • „Reinischkogel“ Ligist – Abzw. Klugveitl 22 km: 1972.
1000 Minuten Rallye 1970 - Lampinen/Mannucci bei der Abnahme, links Cesare Fiorio

1000 Minuten Rallye 1970 – Lampinen/Mannucci bei der Abnahme, links Cesare Fiorio

Das Jahr 1973 ist deswegen in Klammern gesetzt, weil die Veranstaltung am Starttag wegen fehlender (liegengebliebener?) behördlicher Genehmigungen nicht durchgeführt werden konnte.

1000 Minuten Rallye 1970 - Harry Källström in Seewiesen

1000 Minuten Rallye 1970 – Harry Källström in Seewiesen

Als Sommervergnügen begab ich mich im Juli 2017 wieder mit meiner Fulvia auf den Weg, um die oben angeführten Straßen im Zustand 2017 zu befahren, zu sehen, was aus den früher selektiven Sandstraßen geworden ist. Allerdings habe ich die damals vorgeschriebenen Etappenfahrzeiten „großzügig“ ignoriert, denn neben den Sonderprüfungen waren die immer knappen Etappen ein wesentliches Kriterium dieser Rallye: nur wenige der meist circa 40 Etappen waren länger als ungefähr 50 Minuten Fahrzeit, einige sogar unter 15 Minuten. Es gab außer der Zwangsrast in Seewiesen keine Pausen.

1000 Minuten Rallye 1971 - Klassenfüller Ballestrieri/Bernacchini

1000 Minuten Rallye 1971 – Klassenfüller Ballestrieri/Bernacchini

Es war ein fast gemütlicher Zweitagesausflug mit einer Nächtigung auf dem Reinischkogel, in Summe ungefähr 650 km ab Wien. Zum Teil mussten die Straßen mit Hilfe von 50.000er-Karten gefunden werden, der moderne Straßenbau nimmt auf nostalgische Ausflügler wenig Rücksicht. Ich hatte auch nicht erwartet, dass die alten Sandstraßen unverändert auf mich warten würden, aber manche bauliche Veränderungen waren so tiefgreifend, dass die alten Orientierungshilfen aus den Durchführungsbestimmungen wie von einem anderen Stern zu kommen schienen. Regionale und lokale Anforderungen, Umfahrungen, Begradigungen, Verbreiterungen und Ortserweiterungen brachten zum Teil nicht mehr wiedererkennbare, neue Straßencharakter. Aber einige Sträßchen blieben fast unverändert, über den Sand wurde asphaltiert, der Charakter blieb unangetastet, in schmalen Tälern und über Bergrücken blieben die Kurvenfolgen, Steigungen und Gefälle erhalten – das Fahrvergnügen kehrte schnell zurück: Gollersattel, Reinischkogel, Stübinggraben, Gallmannsegg mit einem „auto d’epoca“, das nicht alle Straßenbedingungen wegfiltert, machen auch heute noch bei ganz bürgerlichen Geschwindigkeiten großen Spaß.

1000 Minuten Rallye 1971 - Klassenfüller Barbasio/Sodano

1000 Minuten Rallye 1971 – Klassenfüller Barbasio/Sodano

Und warum dieser Nostalgieausflug auf lancianews? Weil die Rallye der 1000 Minuten ab 1970 Lauf zur Rallye-Europameisterschaft war und Lancia daher seine Fulvias zu diesen Veranstaltungen schickte, 1971 sollte Munari spät entschlossen den Titel erreichen, 1972 stand im Oktober bereits die Weltmeisterschaft der Marken im Visier, der Termin lag nur eine Woche vor dem „Heimspiel“ Rallye Sanremo. 1973 sollte Munari den EM-Titel erringen, nachdem er ihn 1971 knapp an Zasada verloren hatte.

1000 Minuten Rallye 1971 - Klassenfüller und Service Neverla/Audetto

1000 Minuten Rallye 1971 – Klassenfüller und Service Neverla/Audetto

Hier die Liste der Platzierungen der Fulvias des Reparto Corse Lancia:

1970 waren Ballestrieri/Audetto (TO D41887), Källström/Haggbom (TO B98534) und Lampinen/Mannucci (TO D41888) am Start. Gesamtsieg für Lampinen/Mannucci, Platz 4 für Källström/Haggbom (nach zwei Strafminuten wegen Defektes – mit dieser Fulvia gewannen sie drei Wochen später die RAC Rally in England), Platz 11 für Ballestrieri/Audetto.

Mürztal

  1. Lampinen/Mannucci                7:39,8
  2. Källström/Haggbom                 7:55,8
  3. Ballestrieri/Audetto                  8:12,9

Stübinggraben

  1. Källström/Haggbom                  12:03,6
  2. Lampinen/Mannucci                 12:10,0
  3. Ballestrieri/Audetto                   12:41,6

Sengerberg

2.  Källström/Haggbom                       6:20,2

  1. Lampinen/Mannucci                 6:29,2
  2. Ballestrieri/Audetto                   6:52,0

Gollersattel

2. Källström/Haggbom                       10:50,4

  1. Lampinen/Mannucci                10:58,6
  2. Ballestrieri/Audetto                  11:13,4

 

Lampinen/Mannucci fuhren als Führende in die Zwangsrast in Seewiesen ein, durch den Defekt von Janger/Wessiak, die bis vor die SP Hollenstein – Lassing mit 32 Sekunden Vorsprung geführt hatten, und die Strafpunkte von Källström/Haggbom konnten sie beruhigt in die zweite Nacht starten. Janger/Wessiak wurden im Mürztal und Stübinggraben „in die Schranken gewiesen“, der Rest war professionelles Verteidigen der Führungsposition bis nach Laxenburg. Ohne Strafpunkte wären Källström/Haggbom Zweite geworden.

Am Sengerberg und Gollersattel waren die Lokalmatadoren Günther Janger/Wolfgang Wessiak auf Porsche 911 S um 1,4 und 4,6 Sekunden schneller gewesen.

1971 waren Ballestrieri/Bernacchini (TO E24264), Barbasio/Sodano (TO E51664), Munari/Mannucci (TO B99805) und Neverla/Audetto (TO A81339) am Start. Munari/Mannucci waren auf die Europameisterschaft angesetzt, die drei anderen Fulvias waren als Klassenfüller Gruppe 4 bis 1.600 ccm am Start, fuhren nach dem Start ins Hotel zurück bzw. als Service für Munari.

1000 Minuten Rallye 1971 - Munari/Mannucci in Seewiesen

1000 Minuten Rallye 1971 – Munari/Mannucci in Seewiesen

Mürztal                2. Munari/Mannucci                      8:19,5 min

Pleschalm           1. Munari/Mannucci                      13:51,0

Sengerberg        3. Munari/Mannucci                       5:58,6

Gollersattel        2. Munari/Mannucci                      10:29,6

Im Mürztal waren Janger/Wessiak auf VW 1302 S um 5,3 Sekunden, am Sengerberg Janger/Wessiak um 7,2, Pinto/Eisendle auf Fiat 124 Sport um 4,0 und über den Gollersattel Pinto/Eisendle um 8,2 Sekunden schneller als Munari gewesen, der allerdings auf den vorhergehenden SPs einen ausreichenden Vorsprung von 52 Sekunden auf Pinto herausgefahren hatte. In der zweiten Nacht konnte Pinto davon nur 15 Sekunden „abbauen“.

1972 waren keine Werks-Fulvias am Start, nur die Wiener Heinz Weiner/Judith Loos mit einem Coupé 1,3 S – sie erreichten Platz 13 und Klassensieg bis 1.300 ccm.

1973 hätten Ballestrieri/Maiga und Munari/Mannucci (TO H25670) starten sollten, mussten aber nach der Absage der Rallye unverrichteter Dinge wieder nach Hause fahren. Munari „wutschnaubend“ mit dem Wettbewerbsfahrzeug zurück nach Italien zum „Giro d’Italia“, den er für die EM-Rallye unterbrochen hatte.

Diese und weitere Details sind in meinem Buch „Wie breit sind 1000 Minuten?“ aus dem Jahr 2007, ISBN 978-3-85119-309-1, erschienen im Verlag Brüder Hollinek, nachzulesen.

Für einen weiteren nostalgischen Ausflug würde sich der Besuch der Sonderprüfungsstraßen in Nieder- und Oberösterreich anbieten, allerdings liegen diese räumlich relativ weit auseinander, sodass dieses Vorhaben wohl noch etwas warten muss.

 

E. Marquart /8.2017

Nachsatz zu den historischen Fotos: Die beiden österreichischen Fotografen Artur Fenzlau und Erwin Jellinek beschränkten in der genannten Zeit ihre Einsätze auf die nähere Umgebung von Wien, fanden also nie den weiten Weg in die Steiermark, wo es dazu auch noch Nacht war. Die jungen Fotografen Alois Rottensteiner und H.P. Kumpa, die u.a. für die „autorevue“ fotografierten, trieben sich eher in den Wäldern herum, aber auch von ihnen gibt es leider keine „steirischen“ Fahraufnahmen, nur aus der Zwangsrast in Seewiesen. Die gezeigten historischen Aufnahmen Fenzlau und Jellinek sind heute im Technischen Museum Wien auch digital archiviert.

Der folgende Bilderbogen zeigt Anfang- und Endpunkte einiger der angeführten Sonderprüfungen, wie ich sie bei meinem Ausflug vorgefunden habe, es sind großteils nur noch die Namen, die an die längst vergessenen Herausforderungen erinnern.

SP "Piregg" - Start in Fischbach

SP „Piregg“ – Start in Fischbach, heute breite Landesstraße L 114 nach Birkfeld

Gollersattel bei Arzberg - auch heute noch SP bei Rallyes

Gollersattel bei Arzberg – auch heute noch SP bei Rallyes, „versteckt“ im Wald

Pleschalm ab Stift Rein - in Varianten gefahren

Pleschalm ab Stift Rein – in Varianten gefahren

Stübinggraben - heute noch Sandstraße, aber teilweise gesperrt, was aber sehr versteckt angezeigt wird

Stübinggraben – heute noch Sandstraße, aber teilweise gesperrt, was aber nur sehr versteckt angezeigt wird!

Reinischkogel ab Ligist - noch immer eine Herausforderung

Reinischkogel ab Ligist – noch immer eine Herausforderung

Sengerberg - führt heute teilweise durch Ortsgebiet

Sengerberg – führt heute teilweise durch Ortsgebiet

Auf dem Weg in die Steiermark wurden zum Anwärmen am Beginn und zum Ausklingen am Ende der Rallye in der „Buckligen Welt“ zwei Straßen in Varianten als Sonderprüfungen gefahren:

Zöbern -Gschait/Hattmannsdorf

Zöbern – Gschaidt/Hattmannsdorf

Stang bei Kirchschlag nach Hollenthon

Stang bei Kirchschlag nach Hollenthon

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